10.02.2010
Schneefall in Baku
давай сыграем в мафию
MAFIA- seit neuestem fester Bestandteil der aserbaidschanischen Abendgestaltung, sozial, unterhaltsam, lustig, spannend, unter Umständen durchaus kaukasisch temperamentvoll!
Es ist irgendein beliebiger Tag der Woche, abends nach 21 Uhr, ich sitze zusammen mit 15 jungen Männern in einem separaten Raum des Teeklubs „R&S“, wir sitzen alle zusammen im Kreis auf weichen Sofas und Sesseln, in der Mitte steht ein Tisch auf dem sich (halb-)volle Aschenbecher, (halb-)volle Redbull-Dosen, diverse Handys, Feuerzeuge, Zigarettenschachteln (v.a. der Marke Kent), (halb-)volle Teetassen, Zuckerdosen und Servietten tummeln. Die Luft ist dick, stickig, verraucht, inzwischen auch vertraut, 15 sitzen, einer steht, der Moderator Sadiq. Er weist alle darauf hin, dass das Spiel möglichst auf Russisch gespielt werden soll, da nicht alle Aserbaidschanisch verstehen ggf. wird simultan übersetzt. Auch sollen möglichst nur drei gleichzeitig rauchen, aus Rücksichtnahme auf die anwesende Frau und andere Nichtraucher. Das Licht wird gedimmt, Sadiq verteilt weiße Umschläge, in jedem befindet sich ein Foto auf dem entweder Pierre Richard (als friedlicher Bürger), Anthony Hopkins (als Maniak), Sherlock Holmes (als Kommissar), Al Pacino (als Don Mafia) oder Al Pacino und Robert de Niro (als gemeine Mafia) abgelichtet sind. Jeder ist angewiesen, ohne dass es jemand anderes im Raum mitbekommt, sich mit seiner Identität im folgenden Mafia-Spiel vertraut zu machen. Ich halte meinen Umschlag über meinen Kopf und versuche in der Dunkelheit zu erkennen, ob mich auf meiner Karte zufällig Anthony Hopkins verschmitzt anlächelt, die Karte ziemlich hell ist (wegen der weißen Haarpracht von Pierre Richard) oder ziemlich dunkel ist (wegen der fehlenden weißen Haarpracht von Al Pacino bzw. Robert de Niro). Jeder kennt seine Identität und Sadiq sammelt die Karten wieder ein. Das Licht wird aufgedreht, das Spiel beginnt. „Alle lehnen sich zurück und schließen die Augen. Nur die Mafiaspieler öffnen die Augen und erkennen sich gegenseitig. Wer ist Don Mafia?“ Don Mafia gibt sich zu erkennen, so dass die anderen zwei Mafiaspieler wissen, wer das letzte Wort hat und auch Sadiq weiß, wer gemeine Mafia ist und wer Don Mafia. „Mafia schließt wieder die Augen. Maniac öffnet die Augen. Maniac schließt die Augen. Der Kommissar öffnet die Augen. Der Kommissar schließt die Augen. Alle haben die Augen zu. Guten Morgen für alle!“ Alle öffnen die Augen, blinzeln sich an. „Ihr habt zwei Minuten zur Diskussion.“ Diskussion. Wie soll man denn diskutieren, wenn man keine Ahnung hat, wer Mafia sein könnte und wer nicht, wie die einzelnen Spieler spielen, argumentieren, was ihre Strategie ist? Aber das ist ja genau Sinn und Zweck des Spiels, wenn man von Sinn und Zweck sprechen möchte ;). Ziel der Mafia ist es, möglichst alle Bürger umzubringen, Ziel der Bürger inklusive Kommissar ist es alle Mafiosos zu entlarven und damit aus dem Spiel zu entfernen. Ziel des Maniac ist es einfach nur bekloppt zu sein und mehr oder weniger wahllos andere Spieler umzubringen. Umgebracht wird entweder in der Mafianacht (Mafiaspieler wachen auf und suchen sich ihr Opfer), in der Maniacnacht (Maniac erwacht und sucht sich sein Opfer) bzw. in der Kommissarsnacht, wenn der Kommissar einen Mafiaspieler entlarvt. Das alles ohne dass die anderen Spieler wissen, welche Identität die anderen haben, wem man trauen kann und wer gerade lügt wie gedruckt. Ich verstehe nur die Hälfte der Diskussion, Hasan ergreift zuerst das Wort, Nijat fügt seine Meinung hinzu, ein paar sind irgendwie gegen Vüsal. Ich denke es ist Fuad, weil der immer Mafia ist. Kamran ist genau wie Ruslan und Anar eher zurückhaltend, sagt gar nichts. Das kann durchaus auch ein Zeichen dafür sein, dass er Mafia ist, sich immer schön zurückhalten, um den Verdacht nicht auf sich zu lenken. Mit einem „Ruhe!“ beendet Sadiq abrupt die Diskussion und wir werden der Reihe nach dazu aufgefordert einen uns verdächtigen Spieler anzuklagen. Jedes Mal wenn der eigene Name fällt, muss man einen Finger ausstrecken, wer am Ende die meisten Finger zeigt, muss sich verteidigen, die zur Verteidigung notwendige Fingeranzahl ist abhängig von der Anzahl noch spielender Mafiosi im Spiel. Ich muss grinsen, denn wir werden nicht nur mit unserem Vornamen angeredet, sondern in der aserbaidschanischen Höflichkeitsform mit Frau Elisabeth, Herr Vüsal, Herr Rahim, usw. an. Auf Aserbaidschanisch heißt es dann Elisabeth xanim (sprich: chanum; heißt Frau), Vüsal müellim, Rahim müellim usw. (sprich: mällim, heißt Lehrer, ist die höfliche Anrede für Lehrer, Professoren, Chefs, usw.) . Die Anklagerunde hat ergeben, dass sich Shahin müellim, Tofiq müellim und Ali müellim verteidigen müssen. Sie haben jeweils 30 Sekunden Zeit. In der ersten Runde gibt es noch nicht viel zu sagen, außer, dass man natürlich nicht Mafia ist und es auch keine Beweise gegen die Angeklagten gibt. Tofiq fügt grinsend zwischen zwei Zügen aus seiner riesigen Schischa, die eigentlich immer, wenn ich ihn treffe vor ihm thront, oder er thront hinter ihr, wie auch immer, hinzu, dass es überhaupt keine Anhaltspunkte gegen ihn gibt und wir ihn bitte nicht raus wählen sollen. Die Verteidigungsrede ist beendet und wir stimmen ab, jeder hat eine Stimme, Enthaltungen sind zulässig. „Wer glaubt Shahin müellim ist Mafia?“ Anar und Farid melden sich. „Wer glaubt Tofiq müellim ist Mafia?“ Niemand meldet sich. „Wer glaubt Ali müellim ist Mafia?“ Rahim, Tofig, Kamran, Vüsal, Fuad und Hasan melden sich. Damit ist Ali aus dem Spiel gewählt oder auch, im Mafiajargon, getötet worden. Sadiq verkündet, dass Ali als friedlicher Bürger von uns gegangen ist. Ein Seufzer geht durch die Runde, keine Mafia gefunden und einen Bürger weniger. Ein paar lachen und andere beteuern, dass sie gleich wussten, dass Ali nicht Mafia ist. Sadiq greift beherzt durch, alle sollen still sein, sich zurücklehnen und die Augen schließen. Nacheinander wachen die Mafioso, der Maniac und der Kommissar auf, verrichten ihre Taten und schlafen wieder ein. Ich halte als friedlicher Bürger die ganze Zeit über meine Augen geschlossen, höre nur Sadiq das Spiel moderieren und warte darauf, dass alle wieder aufwachen dürfen. „Доброе утро всем (Guten Morgen für alle!) – und wir öffnen alle die Augen. Nijat wurde von der Mafia umgebracht, Shahin wurde vom Maniac umgebracht und der Kommissar war super und hat einen Mafiaspieler enttarnt: Anar war Mafia und ist jetzt aus dem Spiel. Die „Toten“ stehen auf und stellen sich neben den Sitzkreis, um das Spiel schweigend und ohne Irritationen zu stiften, weiter zu verfolgen. Es sind noch elf Spieler im Spiel, darunter zwei Mafiosi, ein Maniac, ein Kommissar und sieben friedliche Bürger. Die zweiminütige Diskussionsrunde beginnt wieder von neuem. Hasan ist wieder der erste der losargumentiert, dass es klar sei, dass Vüsal Mafia sein müsste, weil er erstens vorher gegen Ali gestimmt hat, der wie wir alle inzwischen wissen, friedlicher Bürger war und zweitens von Nijat, der in der Mafianacht umgebracht wurde, schon in der ersten Runde beschuldigt wurde. Vüsal bekräftigt daraufhin, dass Nijat keine Ahnung hatte, wer Mafia ist, wie er, weil er auch friedlicher Bürger war bzw. ist, er selber keine Mafia ist und gegen Ali in der ersten Runde auch noch fünf andere gestimmt haben. Er glaubt viel mehr, dass Fuad Mafia ist. Hasan versucht andere Spieler auf seine Seite zu bekommen. Ich denke bevor Vüsal Mafia ist, ist es eher dieser Hasan, so viel, wie der redet und welche haarsträubenden Argumente er aus dem Ärmel zaubert. Der war mir schon von Anfang an suspekt. Ich werfe in eher bröckeligem Russisch meine Meinung zum Thema ein, aber die meisten scheinen die wohl nicht recht ernst zu nehmen und lächeln mir nur freundlich zu. Auch Kamran glaubt plötzlich, dass Vüsal Mafia ist. Es wird heftig hin und her diskutiert bis Sadiq dem Ganzen mit einem eindeutigen „Тихо!“ (Ruhe!) schließlich ein Ende bereitet. Nach der Anklagerunde müssen sich Vüsal und Hasan verteidigen. Vier melden sich gegen Hasan und sieben gegen Vüsal, damit wird Vüsal als friedlicher Bürger von den anderen Spielern umgebracht. Ich sage, dass ich gleich wusste, dass Vüsal nicht Mafia war und Farid beklagt sich laut, dass er auch wusste, dass Vüsal nicht Mafia sein kann. Mir ist inzwischen sonnenklar, dass auf jeden Fall Hasan und eventuell auch Kamran oder Fuad die übrigen zwei Mafioso sind. Das Spiel geht weiter. Auf eine Mafianacht, folgt wieder eine Maniac- und Kommissarsnacht, es werden Spieler getötet, in den Anklagerunden raus gewählt, wild argumentiert, usw. bis am Ende nach zwei weiteren Runden Hasan und Fuad als Mafiosi entlarvt werden und die übrig gebliebenen Bürger das Spiel gewonnen haben. Stundenlang, Spiel um Spiel geht der Abend so weiter, keiner wird offensichtlich müde vom Mafiaspielen und alle wollen unbedingt noch ein weiteres und noch ein weiteres Spiel spielen. Bis sich zwischen eins und zwei Uhr nachts die Runde nach und nach auflöst, sich die Jungs gegenseitig liebevoll mit Küsschen verabschieden, mir die Hand geben und sich alle schon auf die nächste Mafianacht freuen. Diese Mafiaspiele in R&S nur mit Aserbaidschanern, von denen ich zwei richtig gut kenne und mit den anderen bis jetzt nur Mafia gespielt habe, ist für mich ‚Mafia XXL‘, mit vielen Spielern, knallharten Regeln, einem taffen Moderator und stundenlang... Ich habe den Eindruck, dass man sich eigentlich nur in diesem Teeklub trifft, um Mafia zu spielen. Gerade werde ich aber darauf hingewiesen, dass dieses dauernde Mafiaspielen unter jungen Menschen abends vor allem im Teehaus eine eher neue Erscheinung ist und auch nur in bestimmten Kreisen gespielt. Was das für bestimmte Kreise sind, kann ich allerdings nicht herausfinden, aber ich glaube, durchaus sympathische Kreise…
Die softe Variante des Mafia-Spiels habe ich von Kamran in meinem Lieblingsteehaus „Shesh-Besh“ gelernt. Damals im November 2009 waren wir zu fünft, Kamran, Vüsal, Togrul, Cathleen und ich. Kamran hat moderiert und gleichzeitig mitgespielt. Wir haben auf Englisch gespielt, ohne Maniak mit zwei Mafioso und der Kommissar kam auch erst ein paar Spiele später dazu. Abhängig vom Kontext in dem wir uns treffen, spielen wir seitdem eigentlich immer Mafia. Es ist quasi eine Institution geworden und aus einem abendlichen Treffen im Teehaus (welches es auch sein möge) nicht mehr wegzudenken. Möglich ist es, dass man auch bald in Deutschland überall und immerzu Mafia spielt, denn ich habe das Spiel zusammen mit den aserbaidschanischen Teilnehmern in unserer „Entdeckendes Lernen“-Gruppe im Januar 2010 in Baku eingeführt. Daraufhin haben wir es nicht nur zum ersten Mal während dieser Fortbildung gespielt, sondern anschließend auch bei Tee, Keksen, Schokolade, aserbaidschanischem Rotwein und Sheki Pakhlava in unserem Homestay in Sheki auf unserem Kurztrip in den aserbaidschanischen Norden. In diesem Sinne „Alle kennen ihre Identität und schlafen ein….nur die Mafia wacht auf!“