Im Zug
ein Blick auf die Straße ( 4 Tage ohne Regen)
Das Haus, im Vordergrund die Feuerstelle zum Kochen Schafe im "Badezimmer"
meine kleinen süßen besten Freunde ;-)
Das Bett ist weich und schön warm. Meine Decke ist gefüllt mit Schafswolle. Diese braucht zwar ein bisschen länger bis es warm wird, aber dann wird die Wärme auch umso intensiver gespeichert und man fühlt sich eben als hätte man selbst ein dickes Schafsfell. Irgendwo kräht ein Hahn und ab und zu hört man jemanden etwas in den Tag hinein rufen. Durch die Gardine sehe ich strahlend blauen Himmel und erahne die Sonne, na da lohnt es sich doch mal aufzustehen, auch wenn das ein wenig Überwindung kostet, denn im Zimmer sind es etwa sieben Grad oder kälter. Beim Anziehen kann ich meinen Atem sehen. Schnell raus in den Hof Zähne putzen und Gesicht waschen, dann kann der Tag beginnen. Ihr fragt euch sicher wieso es plötzlich so kalt bei mir ist und warum ich bei dieser Kälte dann zum Waschen auch noch raus gehe. Ich befinde mich zur Zeit für eine Woche am anderen Ende von Aserbaidschan in der Nähe von Armenien und an der Grenze zu Georgien in der Region Kasakh in der 3000 Seelengemeinde Sadihli. Mehrab, der bei AOS arbeitet hat mich gefragt ob ich auf die Hochzeit seines Bruders mitkommen möchte und da habe ich natürlich keine Sekunde gezögert. Hier gibt es kein bzw. nur in einzelnen Fällen fließendes Wasser. In jedem Hof steht ein Brunnen und man pumpt das Wasser per Hand in Eimern täglich 15 Meter nach oben. Seit dem Zerfall der Sowjetunion werden die Häuser auch nicht mehr mit Gas versorgt, das heißt die meisten Menschen heizen in kleinen Öfen mit Holz oder schließen kleine elektrische Heizplatten an. Das Haus in dem ich mich befinde ist relativ neu erbaut worden und deswegen gibt es noch keinen Ofen bzw. auch noch nicht so etwas was man Bad nennen könnte. Draußen auf einem kleinen Tisch steht ein Eimer mit einem Hahn am unteren Ende, daneben liegt ein Stück Seife – das ist das „Bad“. Wenn man sich mit dem ein paar Grad kaltem Wasser morgens das Gesicht wäscht ist einem auf jeden Fall nicht mehr kalt – für einen kurzen Moment und der Kopf dampft dann richtig in der Sonne.
Schnell in die Küche zum Frühstücken, das ist der wärmste und kleinste Raum im ganzen Haus, denn es gibt eine elektrische Heizplatte und einen kleinen Gaskocher zum Heißen und zum Kochen. Mehrabs Mutter hat wie alle drei oder vier Tage Brot gebacken. Es duftet herrlich! Dazu gibt es Butter, super leckere Kirsch- und Quittenmarmelade (natürlich auch selbst gemacht), typisch aserbaidschanischen Salzkäse und natürlich Chai (schwarzer Tee, den es als mehr oder weniger einziges Getränk immer gibt), den der Aserbaidschaner mit etwa vier Löffeln Zucker trinkt. Während ich esse, kommt ständig jemand neues in die Küche - Tanten, Onkels, Cousins, Nachbarn, wer auch immer - alle reden ununterbrochen und gleichzeitig. Nach dem Frühstück spaziere ich durch den Hof und genieße das schöne Wetter. Es ist November und damit Regenzeit, was bedeutet, dass es gelegentlich regnen kann. Vor drei Tagen hatte es zum letzten Mal geregnet und das was davon übrig geblieben ist, ist überall – Schlamm und Matschpfützen. In Sadihli und wohl auch in den umliegenden Gemeinden gibt es keine befestigten Straßen. Das ist klimatisch betrachtet den größten Teil des Jahres auch kein Problem, denn es ist sehr trocken und warm. Wenn es dann aber regnet verwandelt sich alles in eine Schlammwüste. Wenn man nur die Straße sieht, in die Höfe schaut und die vielen Kinder, die hier mit dreckigen Schuhen, Hosen und kaputten Pullovern spielen, könnte man meinen man befindet sich in einer Slumsiedlung oder zumindest in einer Gegend wo die Menschen sehr arm sind. Das ist allerdings überhaupt nicht der Fall. Natürlich leben hier nicht unbedingt Millionäre, aber wenn man sich manche Häuser von außen und besonders von innen ansieht, dann merkt man doch, dass hier Geld im Umlauf sein muss. Und wenn man draußen im Matsch spielt, dann zieht man sich natürlich nicht unbedingt seine schönsten Kleider an. Wegen dem schönen Wetter wäscht Mehrana, eine Cousine von Mehrab, die im Nachbarhaus wohnt heute Wäsche, kiloweise und per Hand, denn sie hat zwar nur ein Kind, aber weil es nicht in jedem Ort eine Schule gibt, wohnen noch vier oder mehr andere Kinder (Nichten, Neffen, andere Cousinen oder Cousins) mit im Haus. Neben einem riesigen Holzhaufen an einer Feuerstelle wird Wasser zum Waschen erhitzt und dann schubbert sie stundenlang Jeans, Pullis und zerlöcherte Strumpfhosen und das alles im Rauch des Feuers. Parallel wird alles für die in zwei Tagen anstehende Hochzeit vorbereitet. Da das Haus noch nicht ganz fertig ist, wird hier noch ein bisschen gemalert und dort werden Lampen angebracht. Außerdem bauen zwei Cousins eine Schrankwand und ein Ehebett auf, denn es ist Brauch, dass man ein Zimmer für das frischgebackene Ehepaar vorher einrichtet und hübsch dekoriert, sozusagen als Nest für die neue Familie. Andere Tanten und Cousins sind da und jeder scheint beschäftigt zu sein. Die einen quatschen, die anderen schrauben irgendwas zusammen oder sie stehen, so wie ich, im Hof herum und schauen sich das Geschehen an. Plötzlich wird es aufgeregter – ein Schaf soll geschlachtet werden, denn heute soll es Dolma geben, ein aserbaidschanisches Gericht aus Schafshackfleisch gemischt mit Zwiebeln, viel Fett, etwas Reis und Kräutern in Kohlblätter gewickelt. Von den Anwesenden möchte sich aber keiner dieser Aufgabe annehmen und deswegen muss der Cousin von nebenan kommen. Er packt ein Schaf aus der Herde (10 bzw. jetzt nur noch 9 Schafe) und zieht es an den Hinterbeinen zu einem Baum. Ohne Umstände schneidet er dem Tier die Kehle durch, bricht ihm das Genick und ich stehe mit Tränen in den Augen und vor Schock ganz starr daneben. Kopf und Füße ab und dann wird dem Schaf, das inzwischen kopfüber an einem Baum hängt das Fell abgezogen. Es wird bäuchlings aufgeschnitten und die Eingweide werden herausgenommen. Die Gedärme kriegt der Hund, was mit dem Magen passiert ist weiß ich nicht aber die restlichen Innereien werden aufgehoben. Schon fertig und der Cousin schleppt das Schaf in die Küche. Auf dem Küchentisch wird es nun zerhackt und ein Teil des Fleisches kommt zusammen mit Zwiebeln in den Fleischwolf. Bei meinem entsetzten aber auch neugierigem Blick meint Mehrab nur: „So ist das Leben! Die Schafe sind nur hier um nach ein oder zwei Jahren gegessen zu werden.“
Um mich ein bisschen von dem Schock zu erholen gehe ich im Garten spazieren und esse Kaki. Der Garten besteht eigentlich nur aus Kakibäumen und die hängen zu dieser Jahreszeit in vollen Früchten an den Bäumen. Wie die Schafe, die versuchen sich die unteren abzureißen oder die Hähne, die manchmal auf einen Ast flattern und in einer Kaki herumstochern, suche ich mir von den Hunderten (es gibt circa fünf Bäume) die Schönsten aus. Aaaaahh! Ich mache vor Schreck einen Satz nach vorne, denn mir ist gerade etwas ziemlich großes von hinten ans Bein gesprungen. Ich drehe mich um und sehe den Täter – der Hahn, der mich (und ich habe den Eindruck nur mich) aus unerfindlichen Gründen nicht mag. Ich denke er hat zuviel Testosteron im Blut, denn er ist nicht nur aggressiv und jagt mir jedes Mal hinterher, wenn ich mich in seiner Nähe befinde und nicht stocksteif dastehe, denn dann denkt er ich wäre ein Baum, sondern kräht auch ununterbrochen und stolziert eingebildet durch die Gegend.
Während ich so herumlaufe erinnere ich mich an die Fahrt von Baku nach Sadihli. die Zugfahrt mit der dritten Klasse für drei Manat (umgerechnet 2,40€). Die Strecke von Baku nach Sadihli (etwa 500 km, einmal quer durch Aserbaidschan) legt man am besten mit dem Zug zurück, die fahren hier immer nachts, was durchaus sinnvoll ist, denn wir waren insgesamt fast 13 Stunden unterwegs. In einem Großraumwagen mit 54 Pritschen aber mindestens 60 Menschen hatte ich ein Bett quer zum Gang und unten ergattert. Wider Erwarten konnte ich ziemlich gut und viel schlafen, denn der Zug schaukelt einen in den Schlaf und man wacht nur gelegentlich durch die Schnarchlaute der Mitreisenden oder bei einer Haltestelle auf, denn dann schlurft der Schaffner jedes Mal durchs Abteil, ruft hier und dort etwas Unverständliches, der Zug steht wahlweise eine Viertelstunde oder aber es geht nach fünf Minuten weiter. Man bekommt eine Matratze ein Kopfkissen und frische Bettwäsche, d.h. man kann es sich durchaus gemütlich machen. Nur den Gang zur Toilette sollte man vermeiden (na ja bei 13 Stunden Zugfahrt?), denn dann tastet man sich in dem schaukelnden Zug den engen Gang entlang, links und rechts entweder Füße oder Köpfe und versucht den Gestank zu ignorieren. Pro Nische gibt es je 2 Betten übereinander quer zum Gang und 2 Betten übereinander längs zum Gang. Über den Betten gibt es noch eine Ablage für Gepäck bzw. die Matratzen, also ein Brett dicht unter dem Dach, dass eigentlich nicht zum Schlafen gedacht ist. Aber auch in Aserbaidschan gibt es Schwarzfahrer. Die entschließen sich kurzfristig noch mitzufahren, bekommen aber kein Ticket mehr, da alles ausgebucht ist. Also zahlen sie dem Schaffner unter der Hand den doppelten Preis und der lässt sie dafür noch mitfahren. Diese Schwarzfahrer legen sich dann auf Decken auf die Gepäckablage, auch eine Möglichkeit zu reisen. Im Zug konnte man die Fenster nicht öffnen, was ich am Anfang noch für unerträglich gehalten hatte, was ich nach der Fahrt aber nicht mehr zu schlimm finde, denn obwohl die ganze Nacht die Heizung läuft und es am Anfang bevor der Zug losgefahren ist sehr heiß ist, merkt man dann beim Schlafen, dass die Fenster eben doch nicht ganz dicht sind und ständig kalte, frische Luft reinkommt. Früh nach dem Aufwachen so gegen acht Uhr laufen immer wieder ältere Damen durch den Waggon und versuchen „Cola, Fanta, Sprite, Snickers!“ zu verkaufen. Ich glaube nicht, dass viele Leute etwas kaufen, denn die Menschen scheinen sich ihr eigenes Essen mitzunehmen zumindest in meinem Waggon roch es eigentlich immer nach Wurstbrot. Angekommen am Bahnhof von Böyük-Kasik, geht es weiter mit dem Taxi, das ein georgisches Kennzeichen hat, der Fahrer aber eindeutig Aserbaidschaner ist. Und es ist nicht das einzige Auto, das am Bahnhof mit georgischem Kennzeichen steht. Der Grund dafür liegt darin, dass sich hier viele Aserbaidschaner ein gebrauchtes Auto in Georgien kaufen und das Kennzeichen dran lassen, denn dann kommen sie immer wieder problemlos über die aserbaidschanisch-georgische Grenze – auch eine Möglichkeit.
Ich gehe zurück in den Hof. Mehrana wäscht immer noch an der Feuerstelle ihre Wäsche, die Kinder Nargiz, Tural, Melek und Turchan jagen sich gegenseitig durch den Matsch, Mehrabs Mutter kocht mit einer Tante in der Küche und Cousins und Nachbarn streichen den „Partyraum“ für die Hochzeit. Dann ist das Essen so langsam fertig und die Männer nehmen draußen auf der Veranda Platz. Die Frauen essen getrennt in der Küche, aber ehrlich gesagt kann ich das gut verstehen, denn unter den Frauen ist es viel lustiger als wenn man bei den Männern sitzen müsste. Alle kommen und gehen mehr oder weniger wann sie wollen, aber bevor nicht jeder nach dem Essen ein oder zwei Gläser Chai mit ordentlich viel Zucker hatte, verlässt niemand den Tisch. Nachmittags wird eine Kuh gebracht und an den nächsten Baum gebunden. Sie ist ein Geschenk für die Familie der Braut, aber alle meckern nur herum, weil sie zu mager ist und außerdem die falsche Farbe hat. Deswegen wird sie nach ein paar Stunden wieder abgeholt und soll ausgetauscht werden.
Abends nach Sonnenuntergang ist es so kalt, dass ich ins Nachbarhaus gehe und mich dort am Holzofen aufwärme. Mit mir sind noch viele anderen Tanten, Onkels, Cousins und Kinder im Raum, reden wie immer viel und trinken Chai. Im Hintergrund läuft ein Hochzeitsvideo, das man sich im Übrigen jeden Abend ansieht. Bei jeder Hochzeit wird gefilmt und kaum geschnitten, deswegen hat man dann am Ende stundenlanges Filmmaterial und damit eine ständig gesicherte Abendbeschäftigung. Eine Tante vermutet, dass die 3-jährige Nargiz Läuse hat, deswegen wird ihr Kopf mit einem Insektenvernichtungsmittel eingesprüht – sicher ist sicher. Im ganzen Zimmer stinkt es schon nach Pestiziden, dann bekommt Nargiz ein Tuch auf den Kopf und läuft 10 Minuten bis zum Baden lachend und kreischend durch den Raum. Abschließend kommt sie in eine Waschschüssel neben den Ofen und wird gebadet. Die Haare werden kopfüber auf ein weißes Unterhemd ausgekämmt, aber keine von den fünf Frauen, die sich darüber beugen kann eine Laus entdecken - zu meiner Freude, denn ich hatte mir vor Schreck auch schon eingebildet mein Kopf juckt. Inzwischen ist es nach elf Uhr und ich bin anscheinend die einzige, die müde ist. Die Kinder sind fast alle noch wach und ich bewundere diejenigen die schon schlafen, denn da ja nur ein Raum beheizt wird ist es auch nur dort warm und die Kinder schlafen tief und fest in den zwei Betten, die im „Wohnzimmer“ stehen trotz des lärmenden Fernsehers und dem ununterbrochenem Gequatsche von den Anderen. Ich laufe durch die eiskalte Nacht rüber ins andere Haus und möchte mir noch schnell draußen die Zähne putzen. Etwas ziemlich besonderes hier, denn ich bin neben Mehrab, die einzige, die sich regelmäßig die Zähne putzt. Ich habe zwar schon öfter ein paar Zahnbürsten gesehen, die auch mindestens seit fünf Jahren im Einsatz sein müssten, ihrem Aussehen nach zu urteilen, aber benutzt wurden sie während meines Aufenthaltes nicht. Zahnpflege sieht hier anders aus. Meistens nach dem Essen noch am Tisch, sucht man sich ein Stückchen Pappe, ein kleines Stück Holz, ein Stückchen Knochen oder eine Gräte, was eben als Zahnstocher verwendet werden könnte und fährt sich damit im Mund herum. Außerdem lässt man seine Zähne verfaulen bis es soweit ist die beliebten Goldzähne einzusetzen oder aber die Zähne fallen aus ohne dass Goldzähne kommen, dann bleiben eben ein paar Zahnlücken.
Auf dem abendlichen Gang zur Toilette mit Taschenlampe bewaffnet, steht plötzlich ein Stier im Garten und kaut gelassen auf ein paar vertrockneten Maispflanzen herum. Ein Geschenk der Familie der Braut, wahrscheinlich zum Verzehr an der Hochzeit gedacht. Obwohl er an den Hörnern an einen Baum gebunden ist und einen friedlichen Eindruck macht, finde ich es doch ziemlich unheimlich in der Dunkelheit mich an dem Stier vorbeizuzwängen, der mehr oder weniger den Weg versperrt. Endlich geschafft! Ich liege wieder in dem ein paar Grad kalten Zimmer unter meiner Schafsdecke und schlafe zufrieden ein.